Wise Guys - 20.12.2008 - Gruga-Halle - Essen

Abschied von Clemens

Es war unglaublich. Ich saß im noch leeren Zuschauerraum der Gruga-Halle, sah zu, wie die Scheinwerfer eingerichtet und die Leinwände aufgebaut wurden, und alles war wie immer. Aber ich wusste, dass dieses Konzert das Abschiedskonzert von Clemens sein würde. Nicht, dass es mich überraschte, ich wusste es seit Monaten, aber ich saß an diesem Nachmittag plötzlich sehr verwundert da, weil ich es einfach nicht glauben konnte. Seit mehr als zehn Jahren gehörten die Wise Guys zu meinem Leben und immer war Clemens ein Teil davon gewesen. Ich spürte ganz deutlich, dass eine wichtige Zeit an diesem Abend zuende ging. Es ging anders weiter und das war auch in Ordnung, aber die Wise Guys in ihrer langjährigen, vertrauten Besetzung erlebte ich in dieser selbstverständlichen Form zum letzten Mal. Ich saß da, alles um mich herum war wie immer, und ich dachte ungläubig lächelnd, dass es einfach nicht wahr sein konnte.

Im Übrigen war es ja nicht nur mein letztes Konzert mit Clemens, sondern auch Clemens’ letztes Konzert mit mir. Allerdings nahm ich an, dass ihm das nicht so bewusst war.

Die Wise Guys hatten versucht, ein möglichst normales Konzert zu planen, bei dem Clemens ein wenig mehr als sonst im Mittelpunkt stand. Es sollte einige Lieder geben, bei denen Clemens die Leadstimme sang, ein paar Extrafilmchen vor und nach dem Konzert, aber es sollte bloß keine rührselige Abschiedsshow werden. Und hoffentlich gab es keine großen Fanaktionen während des Konzertes, die meistens ganz lieb gemeint waren, aber den Fluß der Show auseinanderreißen konnten. Damit nicht alle Fans, die sich von Clemens persönlich verabschieden wollten, zwischendurch mit ihren Geschenken die Bühne stürmten, hatte Clemens einen extralangen Afterglow versprochen und sich nach dem Konzert viel Zeit eingeplant.

Am späten Nachmittag trafen die Wise Guys in der Gruga-Halle ein, und alle sahen aus wie immer. Sogar Clemens. Aber natürlich war allen bewußt, dass es ein ungewöhnlicher Konzertabend war. Mir kamen sie ruhiger und trotzdem gespannt vor. So wie man eben ist, wenn der Alltag abläuft, aber trotzdem ein besonderer Tag ist. Äußerlich lief alles ganz normal ab. Sachen in die Garderoben bringen, rumlaufen, rumsitzen, essen, Soundcheck machen.

Um 19 Uhr sollte der Einlaß beginnen, was knapp war, weil schon 10 Minuten später das Filmvorprogramm anfangen sollte. Um kurz nach 19 Uhr standen die Wise Guys immer noch auf der Bühne und soundcheckten. Zum Glück nur noch kurz, so dass das Verlassen der Bühne, das Eintreffen der ersten Zuschauer im Saal und der Start des Filmprogrammes auf den Leinwänden fast gleichzeitig erfolgten.

Das Film-Vorprogramm war bewusst als Rückblick auf die letzten Jahre gewählt worden. Für die langjährigen Fans waren es Erinnerungen, für neuere Fans ein Einblick in frühere Zeiten. Und wie mir bewusst wurde, nach diesem Abend plötzlich alles Geschichte, denn die Wise Guys würde es in dieser Zusammensetzung nicht mehr geben. Alle vorhandenen Clips, Filmeinspieler und Aufnahmen waren nach diesem Abend nicht mehr aktuell und wurden zu “früher, als Clemens noch dabei war”. Ach, was hatte ich alles mit ihnen erlebt und wie unglaublich viele Stunden Video gemacht.

Es gab noch eine kurze, programmfreie Verschnaufpause, dann wies die Stimme von Bordstewardess Biggi Wanninger vom Band auf die Verhaltensregeln während des “Wise Guys Fluges” hin und wünschte viel Spaß. Das Publikum jubelte los, das Saallicht ging aus, und die mehr als 4000 Zuschauer in der schon lange ausverkauften Halle jubelten noch lauter auf und klatschten los.

Am Anfang wie immer Am Anfang. Zuerst ein rotes Licht auf dem Boden, drumherum sich bewegende, kaum zu erahnende Gestalten und dazu urzeitliches Gegrummel und kehliges Grunzen. Zu deuten wahrscheinlich als “die Entstehung des Seins vom glühenden Magma über erste menschenähnliche Wesen bis hin zur A-cappella-Gruppe”, oder so. Die Wise Guys erreichten ihren menschlichen Endzustand nach einigen Takten, es ward Licht, und zumindest Eddi sang klar und verständlich los, während im Background noch rhythmisch gegrunzt wurde. Manche brauchen eben etwas länger in der Entwicklung.

Zum ersten Refrain hatten sich dann alle gefunden, das Licht strahlte hell und das Publikum klatschte laut mit. An der Stelle “Seid ihr mit dabei?” gab es den üblichen komplett ruhigen Takt mit fast erschreckender Stille, in den die Zuschauer ihr “Ja!” riefen, um danach noch kräftiger mitzuklatschten.

Die Wise Guys klatschten mit über den Köpfen erhobenen Armen, und Saris sowieso schon kurzes T-Shirt endete bei dieser Haltung oberhalb des Bauchnabels. Da im Gegenzug der Bund seiner Hose sehr tief saß, sah man viel schmalen, weißen Bauch. Zu viel. Ich fand, es sah nicht vorwiegend sexy, sondern vorwiegend “beim Waschen eingelaufen, der braucht dringend ein neues T-Shirt” aus. Da musste dringend Abhilfe geschaffen werden! Ich wollte gucken und “Wow!” denken und nicht “Ups!”. Trotz des kurzen T-Shirts, bei manchen Besuchern vielleicht auch wegen, wurde am Ende laut gejubelt, und sofort ging es weiter mit Relativ.

Es war locker und leicht, und Clemens blieb im Hintergrund, so dass man fast vergessen konnte, was für ein Konzert das war. Dän erinnerte aber sofort wieder daran, als er nach dem Lied sprach: “Es ist das Ende einer Ära, meine Damen und Herren”, und ich wette, dass fast alle Augen in diesem Moment auf Clemens gingen, der lächelnd in der Bühnenmitte stand. “Wir haben fast 14 Jahre in dieser Besetzung gesungen, damals war Helmut Kohl noch Bundeskanzler. Wir begrüßen Sie zum Abschiedskonzert von Clemens!”

Der Satz löste natürlich einen gewaltigen Applaus mit Pfiffen und Geschrei aus, der sich unerwartet fröhlich anhörte. Aber wie sollte man auch gleichzeitig ausdrücken: “Wie schade, dass du gehst” und “Danke für die letzten Jahre mit dir”, ohne dafür Worte zu benutzen? Dass jetzt auf die Ankündigung hin, dass es das letzte Konzert mit Clemens war, so ein Jubelsturm begann, hätten uninformierte Anwesende auch als Freude und Erleichterung interpretieren können. Als “Gut, dass er weg ist”, aber wer im Publikum war an diesem Abend anwesend und wusste von nichts?

Der Applaus dauerte sehr lange und Dän versuchte mehrfach vergeblich zu unterbrechen. “Der Abend ist noch lang”, hörte man ihn beschwichtigend sagen, und ich vermute, er rechnete durch, WIE lang er werden würde, wenn nach jeder Erwähnung von Clemens ein extralanger Applaus beginnen würde. Als es etwas leiser wurde, meinte er fürsorglich: “Es wird noch genug Gelegenheit geben, Clemens heute zu beklatschen, also teilen Sie sich Ihre Kräfte ein bisschen ein!” Kaum sprach er weiter: “Wir haben heute abend ein paar mehr Hauptstimmen für Clemens eingebaut“, ging das Gejubel schon wieder los. Dän sagte etwas frustriert: “Ja ...” und blickte demonstrativ auf seine Uhr, während Clemens still grinste und Sari freudig lachte.

Dän betonte endlich: “Wir wollen auf jeden Fall ein Konzert machen, das Spaß macht. Es wird am Ende noch traurig genug.” Seine Stimme wurde dunkler, ernster und feierlich wie bei einer Trauerfeier: “Und wir wollen auch im Sinne von Clemens dieses Konzert machen. Wir wollen es so machen, wie er es sich gewünscht hätte.” Es blieb eine Sekunde lang still, dann platzte das Publikum los, Clemens prustete völlig überrascht ebenfalls los und Eddi klappte fröhlich lachend nach vorne. Dän redete selber grinsend, aber doch salbungsvoll weiter: “Und wir sind uns sicher: Er hätte ein fröhliches Konzert gewollt”, woraufhin es lautes Gelächter und Applaus gab. Was für eine schöne Ansage! Genau richtig, um die herumwabbernde Schwermut aufzugreifen und lachend wegzuhauen.

An diesem Abend würden sie ein Konzert machen, bei dem sie auf Instrumente verzichten würden, erklärte Dän. Außer bei zwei Liedern, fiel ihm ein. Bei einem würden sie Rhythmusinstrumente haben, bei einem anderen würde Ferenc solistisch ein Rhythmusinstrument benutzen, das man “Ei” nennt. Dän war in Fahrt und erklärte ausführlicher: “Es heißt Ei, weil es die Größe und Form und das äußere Antlitz eines Eis hat. Das ist so ein ... Ei ... wo so trockener Reis drin ist, und Ferenc wird es als Rhythmusgerät einsetzen in der zweiten Hälfte. Wir werden es vorher noch entsprechend ansagen.” Das Publikum dachte “Häh?” und lachte verwirrt, aber amüsiert los.

Dän erklärte, dass sie den Begriff ‘A-cappella’ aus ihrem Sprachgebrauch gestrichen hätten, weil es altmodisch und hausbacken klingen würde. “Die Wise Guys machen ab sofort kein A-cappella mehr, wir machen Vocal-Pop.” Er korrigierte, dass es natürlich nicht englisch ausgesprochen würde, wie “Woukel-Popp”, sondern deutsch als “Vokaaaal-Popp”. Schließlich würden sie ja auch deutsche Texte machen. Sie hätten lange geschwankt zwischen “Vokaaaal-Pop” und “Oral-Musik”, - das Publikum lachte laut los - und Dän grinste: “Ich glaube wir haben uns richtig entschieden.”

Es ging gleich oralig los mit Mädchen, lach doch mal, einem Klassiker und Hauptstimmen-Lied mit Clemens. Das Publikum ging sofort mit, was es bei diesem Lied sowieso immer tat. Es war ein Programmpunkt, bei dem nichts zu verlieren war.

Dän hatte bei seiner vorherigen Ansage etwas vergessen und schob es nun nach: “Die Wise Guys machen weiter im neuen Jahr! Wir haben einen neuen Mann gefunden, er heißt Nils Olfert, kommt aus Kiel und wird sich heute abend hier vorstellen.” Die Zuschauer klatschten freudig los. Dän grinste: “Es haben viele Leute bedauert, dass Clemens aufhört, aber es gab auch einige Zuschriften von Leuten, die sich freuten, dass wir vier weitermachen. Darüber haben wir uns sehr gefreut.” Er sprach davon, dass Nils musikalisch sehr gut passen würde und er sich jetzt ins Gefüge der vier anderen Wise Guys einpassen müsse. “Das hat ja gewisse menschliche Mechanismen, die seit 87 Jahren greifen. Da muss er sich zurechtfinden. Möglicherweise wird das folgende Lied in den ersten Wochen und Monaten seine Hymne. Wir wollen es ihm nicht wünschen, aber es könnte sein, dass er gelegentlich sagt: “Es ist nicht immer leicht, ich zu sein.” Dän sagte es so ehrlich und ruhig, dass der Zuschauerapplaus leise und fast nachdenklich klang. Ja, die schwierige Zeit würde erst kommen. Es war wichtig, dass es menschlich passte, damit die Gruppe sich als Einheit fühlte. Das würde sich aber erst nach den ersten Touren zeigen. Erst wenn man sich in der ständigen Nähe mal richtig auf den Nerv gegangen war, konnte man wissen, ob man das auf Dauer aushalten konnte.

Es ist nicht immer leicht war locker und flockig, und am Ende stellte Sari szenisch kurz jeden seiner Kollegen dar. Dän groß, Ferenc mit hochgezogenen Schultern und ruhigen Bewegungen und Eddi zappelnd. Der Letzte in der Reihe war Clemens. Sari verzog leidend das Gesicht, und ich dachte sofort daran, dass er demnächst etwas anderes an dieser Stelle zeigen musste.

Der Gedanke, dass es das letzte Konzert mit Clemens war, kam bei mir immer wieder durch. Dabei war es gar nicht das letzte Konzert mit ihm. Wegen einer krankheitsbedingten Absage war nämlich im Herbst ein Wise Guys Konzert in Heidelberg ausgefallen und wurde nun im nächsten Januar nachgeholt. Mit Clemens. Eine Idee, die ich von Anfang an total blöd fand. Schluss ist Schluss. Für mich persönlich war Essen zwar tatsächlich das Abschiedskonzert von Clemens, aber das Wissen, dass er doch nochmal auftreten und ganz normal das komplette Programm singen würde, beeinträchtigte den Abschiedsgedanken schon stark. Und es machte es nicht leichter, sondern unbefriedigender. Im Januar, nach den ersten Konzerten mit Nils, dann doch wieder eins mit Clemens zu machen, fand ich einfach unpassend. Es wäre runder und schöner gewesen, in Essen eine richtige Abschiedsvorstellung zu haben. Leute, die nach Heidelberg ins Konzert gingen, sahen das vielleicht anders, aber auch die verpassten die neuen Lieder, die mit Nils schon im Programm waren und fanden das dann vermutlich auch nicht alle gut.

Sari machte also in Essen beim Abschiedskonzert zum letzten Mal Clemens nach, musste sich dann für Nils was Neues ausdenken und würde in drei Wochen Clemens zum ALLERletzten Mal nachmachen. Warum ein klarer und konsequenter Schlußstrich, wenn es auch umständlich ging?

Die traditionelle Zuschauerbefragung war dran, und es waren einige, aber nicht sehr viele Zuschauer zum ersten Mal bei einem Wise Guys Konzert. Ein paar davon hatten vorher nichts von den Wise Guys gehört und nicht gewußt, was konzertmäßig auf sie zukommen würde. Dän freute sich: “Diese Leute kannten Clemens noch nicht so richtig. Für euch ist es also auch nicht so schlimm, dass er aufhört.” Es gab schallendes Gelächter. Er blickte in die ziemlich große Halle, deren hintere Ränge noch durch einen breiten Gang vom Innenteil getrennt waren und dadurch weit weg lagen. “Wer hat letztes Jahr hinten oben gesessen und ist trotzdem wiedergekommen?” Das waren recht viele, aber bei diesem Konzert gab es wenigstens Leinwände, die ihnen die Wise Guys vergrößerten. Dän wies darauf hin, dass sie über die Leinwände alle Emotionen sehen konnten, und die Zuschauer dankten mit lautem Gejubel.

“Wer von Ihnen - das gilt für Männer und Frauen - war in den letzten Jahren heimlich ein wenig in Clemens verknallt?” Großes Gelächter antwortete, aber nur wenige Arme machten Bewegungen. Die konnten jedoch auch als Nasekratzen oder Strähne-aus-dem-Gesicht-wischen gedeutet werden. Enttäuscht wunderte sich Dän: “So wenig? Da hätte ich ein bisschen mehr erwartet.” Ich wunderte mich nicht, denn wer zeigte schon auf und meinte das ernsthaft, wenn der Partner oder die Partnerin daneben saß? Und das jetzt, wo Clemens bald weg war und ein Geständnis sowieso keinen Erfolg mehr haben konnte! Dän fragte nach: “Wer hat sich gerade nur nicht getraut aufzuzeigen?” Das Gelächter wurde noch größer und sofort reckten sich sehr viele Arme hoch. Na also, ging doch.

Nach frei ausgesuchten Kriterien sollte einer der Wise Guys eine CD verschenken, ein Programmpunkt, der seit einigen Monaten dabei war. Dän schwenkte im letzten Moment von Eddi auf Clemens um, und der sprach zvon der Altersspanne der Besucher. Clemens suchte einen Besucher, der mit einem anderen Besucher dort war, mit dem er mit einer Differenz von mindestens 60 Jahren verwandt war. Da hieß es schnell nachrechnen. Es war zwar gut, dass dazu keine Funktionen oder irgendwelche mathematischen Kreisberechnungen erforderlich waren, aber mir war auch in den Grundrechenarten schnell klar, dass ich nicht 60 Jahre älter als meine Kinder war und damit keine Chance auf den Gewinn hatte. Zu schade. Es zeigten aber mehrere Armgruppen im Saal auf, manche noch etwas zögernd, weil vermutlich nochmal nachgerechnet wurde. Die schnellste Gruppe, oder die, die Clemens am deutlichsten im Sichtfeld lag, gewann mit der Angabe von 12 und 74 Jahren und der Enkel kam nach vorne und holte die signierte CD ab.

Passend für die Gruppen, die zu lange nachgerechnet hatten, kam Das wär’s gewesen, ein Lied über verpasste Gelegenheiten. Auch eines der Lieder, das wunderbar zu Clemens’ klarer Stimme passte und das er mit seiner Persönlichkeit geprägt hatte. Schön ruhig, es war wenig los auf der Bühne und darum war das Lied im oft schnellen, bunten und wild bewegten Programm ein der Seele nahegehender Ruhepunkt. Obwohl der Begriff Ruhepunkt da falsch ist. Ein Emotionspunkt wäre vielleicht das passendere Wort. Auf jeden Fall war’s sehr schön.

Es gab sehr lange lauten und stabilen Applaus, bis Clemens das Wort ergriff. Er wies darauf hin, dass es nicht das einzige emotionale Lied des Abends bleiben würde und erklärte: “Wenn ich mir die Gesichter in den ersten Reihen angucke, muss ich sagen: Es ist nicht so, dass ich Ende des Jahres sterbe.” Eine Ansage, die er bei den vergangenen Konzerten angesichts der Gesichter in den ersten Reihen öfter gemacht hatte, die aber für einige Essenbesucher hörbar neu war.

Um den Zuschauern die Thematik des nächsten Liedes zu erklären, damit sie dem Inhalt überhaupt folgen konnten, begann er: “Es ist nämlich so”, was die ersten Lacher auslöste, weil er eine “Hier- werd- ich- jetzt- stehenbleiben- und- erklären- Position einnahm, die auf eine etwas längere Anmoderation schließen ließ. “Im Inneren der Sonne”, ging es los, und dann ging es um Wasserstoffatome, Isotope, Deuterium, Tricium und Einstein.

Es gab schon während der Erklärung einige laute Einzellacher, bei denen ich nicht wusste, ob es Physiker waren, die Clemens Erläuterungen als völlig blödsinnig erkannten, oder ob sie als Nichtphysiker so beeindruckt waren, dass sie ihr Nichtwissen durch lautes Lachen kompensierten. Von daher gesehen, hätte ich laut lachen müssen. Sogar extralaut. Aber ich hielt mich zurück und glaubte einfach vorbehaltslos alles, was Clemens zum Sonnenschein erzählte. Jedes Nachfragen hätte die Erklärung außerdem noch länger gemacht und noch mehr seltsame Begriffe ausgelöst.

Nachdem der Begriff ‘Sonnenschein’ von Clemens gründlich erklärt war und der Gesang begann, zeigte sich, dass das Lied Sonnenschein auch ohne Einstein und Wasserstoff sofort zu verstehen war. Physiker sahen manches einfach zu kompliziert. Ob da von Nils, als studiertem Biologen, Ähnliches zu erwarten war? Der konnte sicher mit Photosynthese und passender Biochemie ankommen. Na, mal abwarten. Eddi und Dän bemühten sich, die Zuschauer beim “Juhu!” zu Mitsingern zu machen und schafften es nach einiger Anstrengung. Nicht toll, aber zufriedenstellend.

Ohne weitere Ansage ging es mit Jetzt und Hier weiter, bei dem die meisten Zuschauer sofort in den ersten Takten aufsprangen und mitklatschten. Die hinteren Zuschauer standen eher auf, weil sie sonst kaum noch was sahen, aber vielleicht auch, weil es mitreißend war.

Die Textzeile “Egal ob das so bleibt, oder auseinandertreibt, es zählt jetzt nur, dass wir zusammen sind” hatte an diesem Abend eine ganz besondere Bedeutung. Ebenso das gemeinsame Hochreißen der Arme beim letzten Ton, das ein ganz symbolisches Bild war, vom Lichttechniker aber durch sofortiges Verlöschen des Lichtes ausradiert wurde, ehe es sich in die Netzhaut graben konnte. Schade. Zwei Sekunden lang einen Blick auf die Abschlußpose zu haben, wäre schon schön gewesen. Die Zuschauer jubelten trotzdem laut.

Noch während des Applauses holten vier Wise Guys ihre auf der Bühne hinter Monitoren und auf Tischen hinterlegten Rhythmusinstrumente und rasselten und rappelten los. Ferenc mit dem “Ei”, das aber nicht gesondert angekündigt wurde. Meine heiße Liebe war dran, wieder ein Hauptstimmenlied von Clemens und auch einer der beliebten Klassiker. Noch im Intro freute sich das Publikum lautstark und wurde erst leise, als Clemens zu singen begann.

Im Verlauf des Liedes begann Sari mit tänzerischen Bewegungen, die früher immer sensationell geschmeidig ausgesehen hatten. Diesmal nur geschmeidig, ohne sensationell zu sein. Warum?, fragte ich mich. Hat er früher wilder getanzt oder war das heute einfach nicht mehr so sensationell, weil die gesamte Bühnenshow viel bewegungsreicher geworden war? Sein Hüft- und Schulterzucken entlockte mir ein nettes Grinsen, aber ich war weit von einer Ohnmacht entfernt. Ehe ich diese schwerwiegende Frage auch nur richtig durchdenken konnte, was das Lied beendet und wurde wild beklatscht und bejubelt. Allerdings nicht nur wegen Sari, sondern auch wegen Clemens und weil es der beliebte Klassiker war.

Dän erzählte, dass auf den vielen Reisen das Kennenlernen von Städten sehr schön, die langen Fahrten aber oft anstrengend seien. Ferenc säße fast immer am Steuer, mit ganz wenigen Ausnahmen. Die Zuschauer klatschten, und Ferenc lächelte geschmeichelt. Dän ergänzte: “Einfach aus dem Grunde, dass er es nicht so gut haben kann, wenn jemand anderes am Steuer sitzt”. Die Zuschauer lachten laut. Dän beurteilte: “Ein sehr guter Fahrer, ein mittelmäßiger Beifahrer”, woraufhin auch Ferenc loslachen musste. Dann verriet Dän, dass Ferenc sich letztens dagegen gewehrt habe, dass Clemens auf dem Beifahrersitz sitzt, weil der ihn langweile. Das Publikum lachte mit empörtem Unterton los, aber ich dachte an Einstein und die Isotope und wusste, was Ferenc meinte. Was nützte es, am Ende der Fahrt alles über die chemische Zusammensetzung der Sonne und die Entstehung ihrer Wärme zu wissen, aber von diesem Wissen völlig erschlagen zu sein?

Dän plauderte darüber, dass Ferenc und Clemens beide aufs Land gezogen seien und das Landleben sie in den letzten Jahren irgendwie geeint hätte. Und weil er gerade interne Sachen ausplauderte, machte er gleich weiter und erzählte, dass Clemens nicht Beifahrer sein durfte, obwohl vorne eine Sitzheizung war und es Clemens im Auto immer so leicht kalt wurde. Clemens schüttelte ungläubig lachend den Kopf.

Dän machte zum Vergnügen des Publikums immer noch weiter: “Er sitzt dann mit seiner roten Jacke meistens hinten und meckert so’n bisschen rum.” Spätestens jetzt hatte jeder im Publikum das Bild vor Augen, wie Ferenc im Van am Steuer saß und hinten in der Ecke Clemens mit dicker, roter Jacke saß, die Unterlippe beleidigt vorgeschoben hatte und vor sich hin grummelte. “Aber ich schweife ab”, unterbrach sich Dän an dieser Stelle. Leider.

Das nächste Lied handelte von einem anderen Gefährt, und in der Hauptrolle war Ferenc als Seemann. Ich mochte das Lied und dazu das Licht, das blau rieselte und an eine Unterwasserszene erinnerte. Käpt’n Nemo auf dem Meeresgrund. Dazu Freddy Quinn in Bassstimme und schmalzige Theatralik. Ach, ich liebe so was.

Es blieb recht dunkel, nur Ferenc war beleuchtet, das Licht rieselte blau, der Rest der Wise Guys musste erahnt werden. Am Ende wurde jubelnd geklatscht und Dän rief: “Unser neuer Bass: Ferenc Husta!” Es stimmte schon, Ferenc war der letzte Neuzugang gewesen, damals, als die Wise Guys entschieden hatten, das Singen zum Beruf zu machen. Ab jetzt würde Nils der “Neue” sein und Ferenc endlich in die Reihe der altbewährten Wise Guys aufsteigen.

“Es gibt heute auch gute Nachrichten”, verkündete Dän und rief laut: “Ferenc ist auch im nächsten Jahr noch mit dabei!!”, was eine unerwartete Ankündigung war, die trotzdem mit Begeisterung aufgenommen wurde. “Und er ist dann nur noch der Zweitneueste”, ergänzte Dän, und machte damit meine Hoffnungen auf eine volle Anerkennungs-Stelle für Ferenc zunichte.

Jeden Samstag war das nächste Lied, bei dem Clemens auch die Leadstimme hatte, das bei mir aber nicht zum Klassiker wurde. Das war mir trotz recht lässiger Reggaebegleitung nicht lässig genug und mit der Einteilung in Geflügel und Neandertaler inhaltlich zu einfach gehalten. Mir fehlte da der feine Humor. Viele Fans sahen das ganz anders und fanden das Lied toll.

Noch im Applaus ging das Licht aus und aus dem Dunkel hörte man zuerst kurz die Stimmpfeife und dann Eddi, der mit Ruf doch mal an begann. Das war das Zeichen für die Zuschauer, von den Sitzen zu springen. Sie sangen und klatschen zum Teil mit, aber erstaunlicherweise sprangen am Schluss nur wenige im Hüpfsprung der Wise Guys. Da hatte ich mehr erwartet. Vielleicht lag es an der großen, etwas unpersönlichen Grugahalle. Oder am Abschiedsschmerz. Oder an der Verwunderung, weil es ein Abschiedskonzert war, das bisher aber keinen Grund zum Weinen geboten hatte.

Das konnte jetzt anders werden. Clemens kam an den Bühnenrand und sagte: “Ich werde oft gefragt, was ich vermissen werde oder an was ich mich besonders gerne erinnern werde.” Die Zuschauer warteten gespannt und blieben ganz still. Aber dann erzählte Clemens über die Misereor-Reise nach Indien und das dortige Hilfsprojekt für die Straßenkinder. Das war wichtig und schön, aber zu erfahren, was er aus seiner Wise Guys Zeit am meisten vermissen würde, wäre doch interessanter gewesen.

Dän übernahm, wies auf den Artikelstand im Foyer und dort besonders auf die neuen Frühstücksbrettchen hin und kam dann zu einer Anekdote. “Am Tag eines Abschiedes blickt man zurück, und mir fällt immer wieder ein Sommerurlaub ein. Es gab Zeiten, in denen wir nicht 120 Konzerte im Jahr hatten, sondern ...”, er lachte, “... gar keine, und in dieser Zeit haben wir zusammen Urlaub gemacht. Manchmal sogar alle.” Er blickte sich um und sagte: “Ferenc war damals noch nicht da. Also der war schon da, aber ...” Dän wedelte unbestimmt zur Seite, “... da irgendwo.”

“Und wir vier waren in Finnland. Eines Tages fiel mir beim Schwimmen auf, dass die obere Wasserfläche wärmer als die untere war. Ich wollte von unseren beiden Physikern Sari und Clemens wissen, ob diese obere, wärmere Wasserschicht einen besser trägt, als das kalte Wasser.” Dän zählte ausführlich auf, wie er nach fünf Minuten für ihn unverständlicher Diskussion den Raum verlassen hatte, in die Sauna ging, Lagerfeuer machte, schwimmen ging, eine Runde schlief, und beim Zurückkommen seine Kollegen immer noch in derselben physikalischen Diskussion vorfand. “Das Ganze hat mehr mit dem folgenden Lied zu tun, als Sie glauben”, versprach er.

Und das stimmte, denn es ging um wissenschaftliche Erklärungen dort, wo sie nicht nötig sind. Bei der Romanze war es gleichzeitig romantisch und schön und doch ganz unromantisch. Wieder eines der ruhigen Clemenslieder, das man ihm zudem nach seiner Sonnenschein-Erklärung auch inhaltlich komplett abnahm. Seltsamerweise hatte es Dän geschrieben, aber sicher in Erinnerung an das Problem des unterschiedlich temperierten Wassers eines finnischen Sees.

Im großen Endjubel stellten sich die Wise Guys kurz an den Bühnenrand, nickten leicht mit den Köpfen und gingen zur Seite ab. Pause. Der erste Teil des Konzertes war störungsfrei und ohne bemerkbare Heulkrämpfe im Publikum geschafft. Eigentlich war es schon fast zu normal.


Während der Pause verließ ein großer Teil der Zuschauer den Saal, um sich im Foyer zu beschäftigen. Die standorttreuen Besucher, die weder den Getränkestand, noch den Artikelstand, noch die Waschräume besuchen wollten, bekamen als kurzes Pausenprogramm auf der Leinwand “Rondo alla Turca” mit den Bremer Philharmonikern (2007) und den Clip “Zwischenbilanz” (2007) zu sehen.

Als am Ende der Pause das Saallicht wieder aus ging, war der Saal fast schon wieder komplett gefüllt. Die Gespräche hörten schnell auf und kribbelige Spannung war zu hören. Wie kribbelige Spannung zu hören ist, ist schwer zu beschreiben. Aber wenn man mittendrin sitzt, weiß man, was ich meine. Kaum leuchteten auf der Bühne die ersten schwach blauen Lichter und kaum war zu erkennen, dass sich die Wise Guys als schemenhafte Figuren zu ihren Positionen begaben, wurde die kribbelige Spannung zu halblautem Gejubel und hörbarer Vorfreude. Trotzdem war über die Lautsprecher ein lautes, regelmäßiges Ticken zu hören, das die meisten Zuschauer sofort wieder verstummen ließ. Das Ticken, das sich etwas bedrohlich nach Zeitbombe anhörte und damit sehr gut zu “Hier fliegt gleich alles in die Luft” gepasst hätte, sollte eine ganz normale Uhr darstellen und war das Intro zu Langsam. Ein Lied, das ich sehr mochte. Von der Thematik, von der Melodie her und mit der Choreographie. Und natürlich mit Sari in der Leadstimme.

Einfach wunderbar, wie Sari am Anfang ganz gelassen zwischen seinen hektischen Kollegen stand und dabei wie ein Ruhepol in einem Zeitrafferfilm wirkte. Und erst die kleine Tanzchoreographie! Ich schmolz immer dahin. Und das ist nicht mal lustig oder ironisch gemeint. OK, das mit dem Schmelzen war eher innerlich, aber die Kombination von Musik, Text, Licht und Bewegungen war so gut gewählt, dass es nicht zu toppen war. Dabei war es auch gut, dass die Wise Guys nicht ganz perfekt synchron tanzten, denn Perfektionismus hätte nicht zur Lässigkeit und Ruhe gepasst. Es war einfach saucool, weil es so entspannt und selbstverständlich rüberkam. Auf mich hatte das Lied auf jeden Fall eine äußerst entspannende Wirkung und funktionierte sofort, indem es den Blutdruck senkte, die vertikale Falte über der Nasenwurzel verschwinden ließ und die Mundwinkel zum leichten Lächeln auseinander zog.

Als das Licht wieder hell wurde, lag am Bühnenrand ein Blumenstrauß. Zielsicher ging Clemens darauf zu, hob ihn auf, las den beiliegenden Zettel und bedankte sich mit einem Lächeln in Richtung der Zuschauer. Ich grinste etwas, denn auf dem Zettel hätte ja auch dick: “Für Sari!” stehen können und Clemens hätte ihn einsacken können, ohne dass das von den Zuschauern auch nur ansatzweise angezweifelt worden wäre. Nur eben von mir. Aber ich glaube, ich denke manchmal schräg.

Dän erklärte dem Publikum: “Hier liegt eine Tafel ‘Danke Clemens. Deine Fans’”, und er hob sie hoch, um sie zu zeigen. Weil sie aus vier Teilen bestand, war sie etwas wackelig. Eddi eilte hinzu, hielt sie mit und trug sie danach in der Haltung eines Nummerngirls zur Seite, wo er sie zusammenklappte.

“Es ist schon die letzten Wochen sehr beeindruckend gewesen, was da alles an Geschenken reinkommt”, meinte Dän. “Also da überlegt man schonmal ein bisschen ... “ Die Zuschauer lachten los. Im Hintergrund kam Christoph Winkel, LKW-Fahrer und Organisierer auf Touren, auf die Bühne und hielt Ferenc ein Körbchen mit Eiern hin. Der hatte sein Rassel-Ei zwar schon in der Hand, aber wählte lachend noch ein Ei aus dem Korb und schüttelte es probeweise. Da es nicht rasselte, warf er es kurzentschlossen im Bogen zu Eddi, der zwei Meter entfernt stand und es gerade noch auffangen konnte. Ich überlegte, ob die Eier im Körbchen gekocht oder roh waren und hätte da gerne mehr Informationen bekommen. Schade, dass Eddi so gute Reaktionen hatte, sonst hätte ich beim Blick auf den Bühnenboden schon mehr gewusst.

Dän bereitete auf das nächste Lied vor, indem er Unterschiede von früher zu heute erklärte. Hauptbeispiel war das Telefon, das früher nicht in der Tasche mitgetragen wurde, ein geringeltes Verbindungskabel und und eine runde Wählscheibe hatte. Sehr ausführlich informierte er, wie ein früheres Telefon zu bedienen war, und die jungen Besucher lachten ungläubig, während die Älteren sich gut erinnerten. Dann ging er zum Wetter über, das früher noch klar erkennbar in Jahreszeiten aufgeteilt war und zu dem nach einem kalten Winter das folgende Lied gepasst hätte: Die ersten warmen Tage. Er wies auf den Kollegen neben sich und rief: “Am Ei: Ferenc Husta!” und das Publikum jubelte auf.

Das Ei rasselte im Intro leicht südamerikanisch, beziehungsweise Ferenc rasselte mit dem Ei leicht südamerikanisch, Clemens setzte mit der Hauptstimme ein, und ich flog innerlich an die Cote d’azur. Hört sich blöd an, kann ich aber. Sobald ich dieses Lied höre, kletter ich über Felsen, höre die Wellen plätschern, spüre die angenehm warme Sonne auf den Armen und fühl den Sand in den dünnen Stoffschuhen. Ich bin einfach nur gut gelaunt und glücklich. Dabei haben diese Erinnerungen überhaupt nichts mit rasselnden Eiern zu tun, sondern mit warmen Tagen, auch wenn es nicht die ersten, sondern die letzten waren, denn es war Nachsaison. Erst innerlich wegschmelzen, dann verreisen, ich glaube, ich sollte auf Wise Guys Konzerten aufpassen, dass die Liedreihenfolge mich nicht ernsthaft beschädigt und irgendwann in Luft auflöst.

Im Applaus trat Clemens nach vorne und erzählte über die Suche nach dem neuen Wise Guy, über die vielen Bewerbungen und dass der arme Eddi die in seinem Urlaub sichten musste. Gewählt wurde am Ende Nils Olfert, und Clemens sagte: “Ich bin ziemlich sicher, dass das eine sehr würdige Nachfolge für mich ist. Dass die Anderen sehr viel Spaß mit ihm haben werden und sicher sehr schöne Musik mit ihm machen werden in den nächsten Jahren. Ich hoffe, dass ihr das genauso sehen werdet und jetzt den Nils mit einem ganz, ganz netten Applaus willkommen heißt. Hier kommt Nils Olfert!” Die Zuschauer klatschten los, einige Stimmen schrien vorfreudig auf, und aus dem Off war die Stimme von Nils zu hören, der als Intro einige Tonfolgen sang. ‘Jodeln’ hört sich immer so abwertend an, ‘souliges Jodeln’ gibt es auch nicht, aber er schraubte sich eben singend so hoch und runter.

Auf der Bühne gab es nur im Hintergrund Licht, und man sah eine Gestalt in die Mitte der Bühne kommen. Das war der singende Nils, den man - ganz spannend - zunächst nur als Umriss sah. So wie einen Mann hinter der Schattenwand bei Talkshows. Dann ging das Licht an, die anderen vier Wise Guys stimmten mit ein, und Moin ging los. Das Lied, mit dem “der Mann aus dem Norden” sich vorstellte. Das Lied, von dem es gerüchteweise hieß, es wäre von Nils selber geschrieben. Dazu konnte ich nur wenig, aber durchaus Bedeutendes sagen: Nein.

Nils hatte eine sehr schöne, klare Stimme und wurde von den Zuschauern sofort gut angenommen. Nach dem ersten Entsetzen, als ein Dreivierteljahr vorher Clemens’ Ausstieg bekannt gegeben wurde, hatten sich viele Fans nach anfänglichem Jammern und Klagen inzwischen schon voll auf “den Neuen” eingestellt. Manchmal wunderte ich mich, wie leicht im Gästebuch stand: “Ich bin traurig, dass du gehst, Clemens. Überleg’s dir nochmal! Aber willkommen, Nils!” Natürlich half dabei, dass Clemens gerne und ganz freiwillig ging, um beruflich etwas Neues zu machen, und dass ein neuer Mitsänger, wenn er von den anderen Wise Guys gewählt worden war, auf jeden Fall toll sein musste, denn was den anderen Wise Guys gefiel, gefiel grundsätzlich auch vielen Fans. Aber trotzdem zeigte es, wie schnell man ersetzt wurde und wie gut der Satz: “Der König ist tot, es lebe der König!” passte.

Aber ich freute mich natürlich, dass Nils und die anderen vier Wise Guys nicht gegen sture Ablehnung und großes Zaudern kämpfen mussten, sondern dass er auf einem ausgerollten Sympathieteppich einlaufen konnten. Das machte die ganze Sache einfacher und versprach Erfolg. In den Refrains von “Moin” wurde auch sofort mitgeklatscht, weswegen manche Leute dann den Text nicht mehr verstehen konnten, was aber fast egal war. Viel spannender war ja, wie der neue Wise Guy aussah. Erstaunlicherweise merkte man ihm keine Nervosität an, er sprang locker über die Bühne, versprühte Energie und zeigte großen Spaß an der Sache. Nils freute sich riesig, dabei zu sein, das war zu spüren.

Das Publikum jubelte ihm zu, und Dän wies auf ein Transparent hin, auf dem “Vorhang auf für Nils! Moin!” stand. “Nils hat noch keinen Anzug”, verriet Dän und zeigte auf seinen neuen Kollegen, der in Jeans und Sweatshirt zwischen den anzugbekleideten Kollegen stand, versprach aber, dass sie alle im Januar neu eingekleidet werden würden. Außerdem würden beim folgenden Lied sechs Wise Guys auf der Bühne stehen. “Nils hat sich mit diesem Lied bei uns beworben und das Tolle war, dass die Demo so klang, wie das, was er nachher live gesungen hat. Das war nicht bei allen Kandidaten so.”

Er erklärte weiter: “Ein weltberühmter Song, den ein Mann bekannt gemacht hat, der vorzeitig bei einer Band ausgestiegen ist, und dieser Umstand hat weltweit noch mehr Menschen traurig gemacht, als Clemens’ Ausstieg bei den Wise Guys. Die Rede ist von Robbie Williams und seinem Abschied von Take That, und das Lied heißt Angels.” “Oooh!” staunten viele Zuschauer und freuten sich. Ich überlegte kurz, ob Clemens nach der Trennung von den Wise Guys nun auch seine Solokarriere mit einem musikalischen Welthit starten würde, hielt das aber im Computerbereich für nicht so wahrscheinlich.

Es war eine der wenigen Gelegenheiten, die Wise Guys als sechsköpfige A-cappella-Gruppe zu hören. Anstelle eines einzelnen Nachfolgers für Clemens hätte ich ja für zwei Nachfolger plädiert. Das hätte musikalisch weitere Möglichkeiten gegeben, weil inzwischen immer mindestens eine Stimme für die Mouthpercussion gebraucht wurde, manchmal sogar zwei. Auch bei den Choreographien wäre es in der Paaraufteilung gut gekommen. Ein weiterer Platz im Auto war sicher noch frei und auch die Verteilung von drei Doppelzimmern bei Hotelübernachtungen wäre preisgünstig geworden. Alles gute Argumente, die trotzdem nicht beerücksichtigt wurden. Vermutlich wollten die Wise Guys erstmal abwarten, ob Nils in seine Jacke eingemummelt, frierend im Auto grummeln würde, ehe sie noch einen weiteren Sänger dazu holten und dann vielleicht zwei frierende Kollegen hätten.

Angels” war wunderschön, was an Nils Stimme, am Arrangement und am Lied lag. Allerdings blieb es für mich ein Coverlied, das ich auch weiterhin sehr gerne im Original von Robbie hörte und das für mich nur wenig Aussagekraft für Nils’ Einsatz bei den Wise Guys hatte. Da würde er ganz andere Sachen singen, was er zweifelsfrei konnte, was aber nicht mit einem aus dem Repertoire fallenden Lied zu belegen war. Aber es hörte sich sehr schön an und zeigte, dass der Klang der Wise Guys eine neue Note bekommen würde.

Es gab großen Jubel, und Nils stand in der Mitte, während seine Kollegen sich an die Seiten gestellt hatten. Plötzlich fiel mir auf, warum die Wise Guys nicht nach einem sechsten Mann gesucht hatten. Das Endbild mit einem beleuchteten Leadsänger in der Mitte, ging optisch nicht auf, wenn auf der einen Seite zwei Kollegen, auf der anderen aber drei standen. Und die Leadstimme aus Schlußbildgründen immer zu zweit zu singen, wäre ja auch doof. Respekt, da hatten die Wise Guys wirklich gut überlegt!

Nils winkte nochmal und lief dann nach hinten von der Bühne ab, Dän rief laut: “Nils Olfert!”, und dann verteilten sich die aktuellen fünf Wise Guys wieder auf der Bühne. Noch war Clemens dabei. Die Zeit von Nils kam erst ab morgen.

“Eins, zwo, drei” wurde unvermittelt eingezählt und sofort Wo der Pfeffer wächst gestartet. Erstaunlicherweise wurde im Publikum kaum mitgesungen. Oder wenn, dann nur leise. Ich hatte erwartet, dass Dän sich auf einige Gesten beschränken könnte und die Strophen laut und deutlich im Saal gesungen würden, aber das war nicht so. Erst in den Refrains kam das Publikum dazu, aber auch dort nur hörbar, nicht mit gewaltiger Schallwelle. Vereinzelt standen Zuschauer auf und klatschten mit, aber auch das hatte ich schon besser erlebt. Aber es war ja auch noch nie vorher Clemens’ Abschiedskonzert gewesen. Ich hatte keine Erfahrung, wie da im allgemeinen die Stimmung war.

Eddi kam danach nach vorne und erzählte, dass die Wise Guys mal alle gleich alt waren. Also bevor Ferenc und bevor Nils dabei waren. Sie waren in einer Schulklasse, waren alle fast der gleiche Jahrgang, aber trotzdem würde einer von ihnen jetzt ein bisschen jünger aussehen. Der Sari. Das läge an einem Fitness-Guru, den er auf einer Amerikareise kennengelernt hätte. Eddi rief: “Begrüßt bitte hier auf der Bühne, direkt aus den USA, Marc Shakiri!” und machte Platz für den Besucher. Der kam während des Intros auf die Bühne, sah jung und fit aus, hatte ein überzeugend sportliches Schweißband um die Stirn gebunden und erinnerte ansonsten stark an Sari. Verblüffend!

Quäl dich fit hatte eine durchdachte Choreographie, die ich sehr mochte. Das Publikum jubelte auf, als sich die anderen Wise Guys um Herrn Shakiri scharrten und ihre Hände bewundernd an seinem Körper entlang führten. Dem begeisterten Gejohle nach, wäre vermutlich manch junger Fan gerne auf die Bühne gesprungen, um mitzumachen.

Im Endapplaus riss sich Marc Sharkiri das Stirnband herunter und sah plötzlich aus wie Sari. “Das war der Sari”, verriet danach Clemens. “Unser Verwandlungsgenie. Ein Mann, der mit ganz geringen Mitteln ganz geringe Effekte erzielt.”

Clemens schwärmte etwas von Frauen mit französischem Akzent und leitete damit geschickt auf Paris über. Von diesem Lied schwärmte ich sowieso und sah es als geniale Mischung aus Romantik, viel Gefühl und feinem Humor. Selten konnte man mich beim Thema “Autobrände” so verzückt und liebevoll lächeln sehen.

Dän sang die letzte Zeile: “... und dann il pleut. Ich werde nass und denk ...” Das Publikum ergänzte laut: “Och, nö”, woraufhin Dän nur noch bestätigend nickte und sich freute. Es folgte ein langer, großer Applaus.

Kaum hörte der auf, starteten Sari und Eddi mit der Leadstimme von Alles in die Luft. Sofort jubelte das Publikum wieder los. In den Refrains zuckten Lichtblitze über die Bühne und es wurde eine richtig spannende Atmosphäre aufgebaut. Das war pure Action. Wieder war ich verwundert, weil die Zuschauer sitzen blieben. Dafür war der Jubel danach allerdings sehr laut.

Dän schnaubte etwas außer Atem, als er danach die nächste Moderation begann, und gab zu: “Singen und Laufen ist nicht immer so einfach.” Dabei hatte ich ganz deutlich gesehen, dass Eddi viel mehr und viel höher gesprungen war. Allerdings sagte der gerade nichts, so dass ich seinen Schnaufgrad und die Luftholrate nicht beurteilen konnte. War vielleicht noch schlimmer. Dän seufzte: “Manchmal denken wir so’n bisschen wehmütig an die Anfangszeiten zurück. Da haben wir uns in eine Reihe gestellt und “Mein kleiner grüner Kaktus” gesungen.” Er machte eine kurze Pause und stellte fest: “Allerdings vor weniger Leuten.”

“Wir kommen jetzt zu einem Lied, das ein bisschen der Paradesong von Clemens war, in den letzten Jahren”. Einige wenige Zuschauer johlten kurz auf, andere klatschten leicht, und ich wunderte mich. Woher wussten die jetzt schon, von welchem Lied Dän sprach? Ich brauchte da deutlich mehr Infos, ehe ich jubeln konnte. Immerhin gab es mehrere Paradesongs von Clemens. Dän machte eine kurze, abwartende Pause und meinte dann enttäuscht: “Ich dachte auch, dass da jetzt ein Applaus kommt, aber das liegt bei Ihnen”. Natürlich gab es dann den gewünschten Applaus, auch wenn die Meisten immer noch nicht wussten, um welches Lied es sich handeln sollte. Dän drehte sich zu seinen Kollegen um und gab zu: “Ich hätt’s vielleicht auch ein bisschen euphorischer ansagen müssen.” Er sagte halblaut: “Ich mach’s nochmal”, ging drei Schritte zurück, wartete kurz ab und räusperte sich. Dann lief er mit zügigen Schritten nach vorne und rief laut und lebendig, dabei immer lauter werdend: “Wir kommen jetzt zu Clemens’ Paradesong!” Das Publikum reagierte gehorsam euphorisch, und Dän rief: “Der Song, der IHN und den ER groß gemacht hat!” Er drehte sich kurz zu seinen Kollegen und sagte: “Liegt alles an der Lautstärke.”

Mit Normalstimme sagte er: “Wir werden oft gefragt, was passiert mit diesen Songs, die bisher der Clemens gesungen hat? Singt die jetzt alle der Nils?” Sanft und mit Bestatter-Unterton erklärte er: “Nein. Wir haben aus Gründen der Pietät diese Songs aus dem Programm rausgenommen. Zumindest bis Clemens die Probezeit bei der neuen Firma überstanden hat. Jetzt aber ein Lied, bei dem Clemens nochmal seine ganze Trauer über eine gescheiterte Beziehung kundtun wird: Nur für dich!”

Die Zuschauer jubelten diesmal ehrlich euphorisch auf, und die vier Background-Wise Guys begannen mit ihren hingetupften “Du”s. Im ersten Intro ließ sich Clemens gar nicht blicken. Im zweiten kam er auf die Bühne und lief mit schnellen Schritten nach vorne, wo er verwirrt und ernst ins Publikum starrte. Gegen Ende rief eine Mädchenstimme im Publikum laut: “Clemens!!” und er guckte intensiv in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Dadurch verpasste er den Einstieg, und eine dritte Runde wurde gestartet. In dieser musste er gegen Ende die Nase laut hörbar hochziehen und konnte nicht einsetzen, weil das Publikum laut lachte. Kopfschüttelnd und verzweifelt litt er weiter, und das Publikum begann laut zu applaudieren. Dadurch konnte er natürlich auch nicht in die fünfte Runde einsteigen. Aber in der sechsten ging es endlich los. Die Nerven seiner Kollegen waren strapaziert, aber es war ja das letzte Mal. (Ich vermeide jetzt einen Hinweis auf das allerletzte Mal im Januar in Heidelberg.)

Schon wieder wurde vom Publikum nicht mitgesungen. Es hatte Konzerte gegeben, da hatte Clemens nur lächelnd gestanden und zugehört, weil die Zuschauer die Strophen übernommen hatten. In Essen blieb es sogar beim Refrain sehr still. Sehr ungewöhnlich, und eigentlich nur zu erklären durch den unterschwellig vorhandenen Abschiedsgedanken, der die lockere Feierlaune dämpfte. Nach der zweiten Strophe rief Eddi laut: “Und alle!”, was ich immer total doof fand, was aber immer total gut funktionierte. Die Zuschauer fielen endlich ein und sangen halblaut mit. Richtig begeistertes Gebrüll und schrilles Gepfeife gab es aber erst, als Clemens seine Jacke auszog, nach hinten warf und sein Hemd plötzlich fast bis zum Bauchnabel offen stand. Im Gegensatz zu Sari, der es mit kurzem T-Shirt und viel Platz zwischen Hosenbund und T-Shirt-Rand versuchte, war Clemens’ Methode wirklich sexy und löste auch bei mir ein anerkennendes “Wow!” aus. Ob der als Computerexperte hinter einem Schreibtisch nicht falsch besetzt war? Naja, mit weit offenem Hemd und strahlendem Lächeln programmieren, das hatte ja auch was.

“Nur für dich” endete nach der letzten Zeile im Schwarz, und im Riesenbeifall war plötzlich die Stimmpfeife zu hören, das Licht ging wieder an und die Wise Guys begannnen sofort mit Sing mal wieder. Und inzwischen war das Publikum so gelockert, dass es aufstand und mitwippte. Auch das Nachsingen, Nachsummen und Nachpfeifen war kein Problem mehr, egal, wie abgedreht Eddi es vorsang.

“Gigantisch!”, rief Eddi danach laut und lobte damit das Publikum. “Ihr habt für Clemens gesungen!” Ups, das hatte ich gar nicht gewusst. Hätte er vielleicht früher sagen können. Dän bekräftigte ebenfalls: “Das war super!”, und setzte hinterher: “Obwohl Eddi IMMER sagt, dass es super war, egal wo.”

Er kündigte das letzte Lied des Abends an und erklärte, als das Publikum erwartungsgemäß ein trauriges “Ooooooh!” seufzte: “Im Sinne von: Man sagt ja irgendwann mal ‘Jetzt ist Schluss’, wie bei Kindern und die sagen dann: ‘Jetzt ist noch lang nicht Schluss!’” Die Zuschauer lachten erleichtert auf. Dann wurde Dän etwas ernster und bedankte sich bei den Zuschauern, dass sie gekommen waren und dem Abschiedskonzert von Clemens einen stimmungsvollen und würdigen Rahmen gegeben hatten. “Ich denke, wir können jetzt alle zusammen nochmal einen großen Applaus für Clemens spenden. Vielen Dank, Clemens!” Er und seine Kollegen auf der Bühne klatschten sofort los und auch das Publikum setzte jubelnd und laut ein und stand dabei sofort auf. Standing Ovations für Clemens.

Der lachte erst breit, lachte dann weniger, verbeugte sich, lachte wieder breit und war dann ganz gerührt. Dreieinhalb Minuten lang dauerte der donnernde Applaus, der immer wieder neue Höhepunkte hatte und gefühlte 10 Minuten lang war. Für Clemens bestimmt nicht ganz einfach, denn selbst der konnte nicht dreieinhalb Minuten am Stück breit lachen, sondern war sichtlich bewegt und guckte manchmal fast hilflos auf die vielen stehenden Zuschauer. Mehrfach versuchte er zu unterbrechen, aber der Applaus war einfach nicht zu stoppen und brandete immer neu auf. Eddi kam von hinten an, umarmte ihn kurz und legte seinen Kopf auf Clemens Schulter. Eine rührende Szene des Mitfühlens.

Endlich kam Clemens im leicht nachlassenden Applaus mit dem Satz: “Nehmen Sie doch bitte Platz!” durch, der so unerwartet war, dass alle Energie in Gelächter zusammenbrach und das Publikum tatsächlich der Aufforderung folgte. Clemens drehte sich stolz zu seinen Kollegen um und sagte: “Guckt mal, das funktioniert.” Er sagte freundlich und ruhig zum Publikum: “Das ist sehr nett. Ich danke Ihnen wirklich ganz herzlich.” Sofort brandete neuer Applaus auf, der aber nur kurz war, weil Clemens so abwartend stehen blieb. “Vielen Dank, sehr nett”, sagte Clemens lächelnd. “Mir fehlen ein wenig die Worte, und ich hätte mich natürlich intelligenterweise auf so was vorbereiten können. Hab ich aber nicht. Deswegen sag ich jetzt mal in aller Hilflosigkeit: Vielen Dank. Ich hatte eine sehr schöne Zeit, ich hatte zwischendurch immer sehr, sehr viel Spaß ...”, das Publikum unterbrach ihn mit einem lauten Lachen, das einen leicht empörten Unterton hatte. Nur zwischendurch Spaß? Als Wise Guy hatte man immer Spaß!

Clemens sprach leicht lächelnd, aber doch ernst und ruhig weiter: “Das verdanke ich natürlich euch”, er verbeugte sich kurz in Richtung des Publikums, “und meinen vier Kollegen, die mir dieses sehr ungewöhnliche Leben in den letzten Jahren ermöglicht haben. Ein Leben, von dem ich weiß, dass wahnsinnig viele Leute davon träumen und das ganz tolle Seiten hat und viel Spaß gemacht hat. Ich werde das nie vergessen. Aber es ist auch gut, dass jetzt was anderes kommt, und deswegen gehe ich mit sehr, sehr guten Gedanken an die Vergangenheit und sehr, sehr guter Hoffnung auf die nächsten Jahre. Es hat einfach Spaß gemacht, es macht immer noch Spaß, wir singen noch ein paar Liedchen ...”, er sprach mahnend: “wenn ihr uns lasst!”, was eine erneute Gelächter- und Beifallwelle brachte.

Es war eine bewegende, aber sehr spontane, natürliche und darum nicht beklemmende Abschiedsrede, bei der Clemens anzumerken war, dass ihn dieser Augenblick rührte, dass ihm bewusst war, dass ein Lebensabschnitt zu Ende ging, dass er sich aber auch sehr auf sein neues Leben freute. Wie ein Auswanderer, der sich am Bahnhof wehmütig lächelnd verabschiedet, aber trotzdem sicher ist, dass das neue Ziel richtig ist.

Clemens wies noch auf den Afterglow hin und versprach: “Ich gehe auch nicht nach Hause, bevor wirklich jeder im Publikum, der das möchte, was auch immer von mir bekommen hat.” Ein jubelndes Gelächter antwortete ihm und so manche Hoffnung glühte kurz vor Schluss nochmal auf. Aber Clemens bremste: “Ich dache jetzt an Autogramme und Fotos.”

Weil er gerade vorne stand und das Wort hatte, behielt er es und moderierte das nächste Lied an, weil es vier Tage vor Heiligabend war, ein Weihnachtslied. “Wir haben uns für ein Lied entschieden, das es sowohl in einer katholischen, als auch in einer protestantischen Version gibt. Auf katholisch heißt es: Nun freut euch, ihr Christen, auf protestantisch: Herbei, oh, ihr Gläub’gen, und deswegen haben wir uns für die englische Version entschieden: Oh come all Ye faithful.

Und dann wurde es tatsächlich feierlich. Es war eine gute Liedwahl, weil die ruhige, aber doch optimistische Melodie die stimmungsvolle Abschiedsatmosphäre nicht mit Gehopse und Gegröle zerschlug. Es war würdevoll, weihnachtlich und fröhlich. So, wie es sich Clemens gewünscht hätte, wenn ich mal Dän zitieren darf.

Mit einer kurzen Verbeugung verabschiedeten sich die Wise Guys danach und gingen mit schnellen Schritten zur Seite ab, während das Publikum laut und ausdauernd klatschte. Es war nicht sehr überraschend, dass die Wise Guys nach kurzer Zeit zurück auf die Bühne kamen. Dän gab bekannt, dass sie in einem guten Jahr wieder nach Essen kommen und eine Spezialnacht in der Grugahalle machen würden. Dann mit Nils. Ein komisches Gefühl. Noch stand Clemens auf der Bühne und schon wurde eine Konzertankündigung gemacht, bei der er nicht mehr dabei war. Na klar, musste so sein, aber es machte mich fast wehmütiger, als die ganze Abschiedsrede vorher. Es zeigte ganz klar, dass Clemens wirklich gleich mit seinem Koffer in den Zug steigen würde. OK, mit kurzem Zwischenstopp in Heidelberg im Januar.

Weiter ging es mit Schunkeln, das auch eine der Paradenummern von Clemens war. Kein anderer konnte so sauer reagieren und so wütend ins fröhlich schunkelnde Publikum schimpfen. Das Lied begann mit dem schön ruhigen Intro, und kaum hatten sich die vier Nebenstimmen-Wise Guys malerisch in der Mitte der Bühne platziert und Clemens stand singend am vorderen Bühnenrand, ging ein Jubelgeschrei im Publikum los. Die Wise Guys guckten verwirrt, denn das konnte nur bedeuten, dass einer von ihnen das Hemd bis zum Bauchnabel auf hatte oder extrem sexy mit den Hüften wackelte. Aber die Kollegen benahmen sich alle vorbildlich. Sari und Ferenc blickten sich verwirrt an, während hinter ihnen die sechs Techniker die Bühne stürmten und sich grinsend in einer Reihe aufbauten. Da endlich verstanden die Nebenstimmen-Wise Guys die Aufregung, grinsten los und hakten sich bei den Technikern ein, während Clemens mit etwas verwirrtem Blick weiter stur ins Publikum sang und nicht verstand, warum vor ihm so gelacht, gejohlt und geklatscht wurde. Kurz vor dem Refrain drehte er sich ein wenig zur Seite, sah mit einem Blick, was los war und grinste. Aber er wurde sofort wieder ernst und zog seine Nummer durch.

Die Techniker versuchten sich ins Bild und die Schunkelchoreographie einzufügen, und es war ein großes Glück, dass sie keine Mikrofone hatten, weil sie etwas wahllos mal “dm-dm” oder die Leadstimme mitsangen. Da sie auch immer mal individuell die Schunkelrichtung wechselten, ergab sich ein lebendiges Bild auf der Bühne, das sehr spontan und wie am späten Abend auf dem Oktoberfest aussah. Also nicht unbedingt schön, aber lustig. Ich war ganz froh, dass sie “Schunkeln” für ihren Auftritt gewählt hatten, wo nicht viel schiefgehen konnte und nicht eine der ruhigen Nummern. Sehr bedrohlich wurde dann der Schluss, als zehn Leute den armen Clemens bedrohten und er ganz hilflos dazwischen hing.

Nach dem letzten Ton hörte man Eddi laut lachen, dann beklatschten die Wise Guys die Techniker, die Techniker die Wise Guys, das Publikum die Nummer - und Clemens blieb fast am Rande und war zur Nebenperson geworden. Er hatte zufällig die Leadstimme gesungen und damit den Rahmen für die wilde Aktion auf der Bühne geboten. Eine lustige Einlage, die auch OK war und vom Publikum sehr bejubelt wurde, bei der aber alle mehr Aufmerksamkeit bekommen hatten als Clemens.

Die Wise Guys gingen ab und kamen wieder. Ohne Ansage machten sie mit Schiller weiter. Es gab viele tolle Lichtkegel auf der Bühne, die alles sehr spannend machten, und es war eine beeindruckende Nummer. Sehr klasse.

Riesenjubel anschließend vom Publikum. Es ging dem Ende zu. Die Wise Guys verbeugten sich nicht nur kurz und gingen dann ab, sondern sie traten zweimal gemeinsam an den Bühnenrand, verbeugten sich und gingen dann erst. Die Verabschiedung wurde gesteigert.

Das laute Gejubel der Zuschauer holte sie zurück und beim Betreten der Bühne begannen sie unverzüglich mit Jetzt ist Sommer. Natürlich sprangen die Zuschauer jetzt auf und machten mit. Es wurde knallend auf 2 und 4 mitgeklatscht und die Stimmung war toll.

Bei der anschließenden Verbeugung kamen die Wise Guys zweimal als Zweiergruppen nach vorne, und am Ende blieb Clemens übrig, der sich ganz alleine verbeugte, während das Publikum nochmal aufdrehte, noch lauter schrie und wild applaudierte. Die Anderen gönnten ihm seine Sonderposition und kamen erst nach einem kurzen Abwarten dazu, um sich gemeinsam mit ihm unter dem Jubel des Publikums zu verbeugen.

Ohne einen weiteren Abgang gab Sari einen Ton mit der Stimmpfeife an, die Wise Guys stellten sich in Position, aber die Zuschauer klatschten ungebrochen weiter. Nach kurzem Abwarten gab Dän einfach den Einsatz, durch den Applaus war zart ein gesungenes “Hallo, hallo!” zu hören, und die ungebändigte Energie des Publikums wurde sofort in die richtigen Bahnen gelenkt und es wurde freudig beim Ohrwurm mitgesungen.

Ein Lied, das ich nie besonders gern mochte, weil es zwar perfekt als Ohrwurm funktionierte, mir aber zu reduziert war. Die Vorstellung, dass begeisterte Fans andere Leute mit Hilfe des Ohrwurms von der Qualität der Wise Guys überzeugen wollten, fand ich ziemlich schlimm. “Hier, hör mal! DAS sind die Wise Guys!” Da gab es doch wesentlich schönere und vor allem typischere Lieder. Aber nach dem Ausstieg von Clemens würde vorerst ja auch der Ohrwurm weg sein. So konnte man alles Situationen noch etwas Positives abgewinnen.

Die Wise Guys verbeugten sich und gingen ab. Das Publikum, das seit “Jetzt ist Sommer” stand, blieb gleich stehen, klatschte laut und pfiff gellend. Ein paar unabgestimmte und darum leicht versetzte Ohrwurm-Chöre hallten durch die Halle und erzeugten in meinen Ohren Stadionatmosphäre. Vermutlich war es das, was mich am Ohrwurm so störte: Es ging nicht um Qualität, sondern um lautes Singen und Grölen einer kurzen, eingängigen Tonfolge. Unter diesem Stadiongeblöke kamen die Wise Guys auf die Bühne zurück, stellten sich mit ernsten Gesichtern im Halbkreis auf und Sari gab den Ton an. Das Publikum spürte die veränderte Situation sofort und wurde ganz schnell ruhig.

Die ersten sanften Töne klangen durch den Saal und alle Zuschauer setzten sich ganz schnell und leise hin. Wir hatten eine gute Zeit war das letzte Lied des Abends. Ursprünglich für einen ganz anderen Anlass geschrieben, war es in den letzten Wochen zum passenden Lied für den Abschied von Clemens geworden. Es ging um das Ende eines Lebensabschnittes, der einem viel bedeutet hatte. Die Atmosphäre wurde sofort etwas bedrückend und sehr anrührend. Das war der Abschied. Die ersten Fan-Tränen stiegen in die Augen.

Sofort im ersten Refrain starteten auf den Leinwänden Videoausschnitte, die Clemens in den vergangenen Jahren zeigten und die Stimmung änderten. Die Wise Guys sangen ruhig weiter, und durch die Bilder wurde es traurig, lustig, wehmütig. Alles nacheinander und alles gleichzeitig. Es wurde still geguckt, dann laut aufgelacht. Der Film hielt bei vielen Zuschauern den Absturz in die Traurigkeit auf und brachte trotzdem ein ruhiges, schönes, sehr emotionales und würdevolles Ende des Konzertes. “Mit Tränen in den Augen lachen”, war das Ziel und ich glaube, das wurde erreicht.

Vielleicht war es für die Wise Guys gut, dass die meisten Augen auf die Leinwände gerichtet waren, denn es war bestimmt nicht ganz einfach, das Lied in diesem Moment zu singen. Während Clemens ernst, aber fast normal wirkte und Eddi sogar lächelte, wenn das Publikum bei manchen Videoszenen auflachte, blieben die drei anderen Wise Guys ungewöhnlich ernst. Die fünf Wise Guys waren noch einmal eine fest verbundene Gruppe, die zwar in der großen, vollen Grugahalle stand, aber trotzdem ganz alleine war, und ihr letztes Lied sang. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war weitgehend auf die Leinwände gerichtet, und die Wise Guys standen auf der großen Bühne nah beieinander, hörten sich, spürten sich, sangen gemeinsam und nahmen ihren eigenen Abschied voneinander. Jeder für sich auf seine Weise, und dabei noch einmal in langjährig vertrauter Einheit. Es war ein Abschied.

Gemeinsam mit dem letzten Videobild verschwanden auch die Wise Guysim Dunkel, weil das Bühnenlicht aus ging. Es blieb etwas länger als normal weg, dann wurde es wieder hell und die klatschenden Zuschauer erhoben sich sofort und gaben Standing Ovation. Clemens lachte breit ins Publikum, aber es war zu sehen, dass es ihm nicht durchgehend leicht fiel. Vermutlich war auch er etwas hin- und hergerissen zwischen Freude und der Emotionalität, die dieser Augenblick einfach brachte. Aber immerhin lächelte er mehr als seine Kollegen, die sehr berührt und ungewohnt ernst aussahen.

Das änderte sich erst, als ein gewaltiger Lärm auf der Bühne begann. Es rauschte und dröhnte, und auf beiden Bühnenseiten wurden silberne Konfettistreifen in die Luft gepustet. Sie wirbelten weit hoch und fielen dann sich drehend und glitternd auf die Bühne herunter.

Die Wise Guys lächelten mit strahlenden Augen und freuten sich über das Geglitzer um sie herum. Sie fassten sich um die Schultern, gingen zum Bühnenrand und verbeugten sich, während um sie herum der Glitterregen wirbelte. Und es hörte gar nicht mehr auf zu wirbeln. Ich finde es ziemlich blöd, wenn solche Aktionen zu sparsam ausfallen. Erst wenn ich denke: Die sind ja wohl wahnsinnig!, ist der richtige Grad erreicht. Und in diesem Fall dachte ich das mit verzücktem Grinsen und freute mich, weil es danach immer noch nicht aufhörte. Großartig!

Dann ging Clemens noch einmal ganz alleine nach vorne, während seine Kollegen mit kurzem Winken die Bühne verliessen. Mit echtem, breiten Lächeln stand Clemens ganz entspannt in Glitzerwirbel und nahm seinen letzten, großen Applaus entgegen. Ein sehr schönes Bild. Dann winkte er lächelnd, drehte sich um und ging ganz einfach nach hinten ab. Übrig blieb eine leere Bühne, auf die weiterhin silberne Konfettischnipsel rieselten.

Es war vorbei. Die Zuschauer klatschten noch eine zeitlang laut, merkten dann aber, dass die Bühne leer bleiben würde. Die Endinszenierung wäre einfach nicht mehr zu toppen gewesen. Außerdem gab es ja noch den Afterglow im Foyer. Vorher liefen aber noch auf den Leinwänden im Saal einige Outtakes der letzten Jahre, die die letzten Tränen, die bei einigen Zuschauern dann doch noch geflossen waren, versiegen ließen. Wenn man die Wise Guys beim Fotoshooting ins Wasser knallen sah, konnte man einfach nicht traurig bleiben.

Es war ein sehr schönes Konzert, das wirklich ein würdevoller Abschluss für die lange Wise Guys Zeit mit Clemens war. Es würde anders weitergehen. Es gab neue Möglichkeiten, neue Energien, aber es würde auch vieles neu gestaltet und neu überdacht werden müssen, was in den letzten Jahren selbstverständlich lief. Die Wise Guys würde es weiter geben, aber die speziellen Wise Guys von 1995 bis 2008, die Clemens ganz deutlich mitgeprägt hatte, waren ab jetzt Geschichte. Und ab Januar würde es die ersten Neu-Fans geben, die zum ersten Mal die Wise Guys erlebten und Clemens dann gar nicht mehr kannten. Für die würde es die Gruppe wie selbstverständlich nur mit Nils geben. Unglaublich.

Im Afterglow sangen die Wise Guys noch “Love is all around”, ein Lied, das sich Clemens für seine letzten Abschieds-Afterglows der letzten Wochen gewünscht hatte, und verschwanden dann einzeln in den Massen der Besucher im vollen, wirbeligen Foyer.

Am Anfang
Relativ
Mädchen lach doch mal
Leicht
Das wär’s gewesen
Sonnenschein
Jetzt und Hier
Meine heiße Liebe
Seemann
Jeden Samstag
Ruf doch mal an
Romanze

Langsam
Die ersten warmen Tage
Moin
Angels
Wo der Pfeffer wächst
Quäl dich fit
Paris
Alles in die Luft
Nur für dich
Sing mal wieder
Oh come all Ye faithful
Schunkeln
Schiller   
Jetzt ist Sommer
Ohrwurm
Wir hatten eine gute Zeit